Ja ja, so ist das. Da versammeln sich jedes Jahr die Gläubigen am 1. Mai in Kreuzberg, um den Herrn zu huldigen. Sie nennen es offen Revolution, doch der Herr versteht sie einfach nicht. Und so kommen sie dann, die vielen Gläubigen, von denen die meisten gar nicht wissen, wegen was sie da hinlaufen. Aber es gibt Wein und gemeinsamen Gesang, da wird man ja nicht fehlen dürfen.
Dass der Herr es nicht mit Wohlwollen sieht und seine Schäfchen zur Abkehr von den 1.-Mai-Gottesdiensten auffordert, interessiert niemand, denn wo und wann soll man sonst beten, wenn nicht am 1. Mai auf den Straßenkreuzungen in Kreuzberg. Hier ist der Herr schlicht im Irrtum. So mancher Gläubige trägt dem Rechnung, indem er sein Gesicht bedeckt, damit der Herr ihm nicht persönlich danken muss für die Aufmerksamkeit, die dem Herrn und den Seinen an einem 1. Mai zu teil wird. Und so kommen sie also in Scharen und veranstalten ihre Zeremonie.
Nun ja, es sind auch Ungläubige da. Zufällig da wohnende oder vorbeilaufende, die vielleicht sogar Angst haben. Aber egal, wenn die Huldigungen erstmal ihren Höhepunkt erlangen, wenn erstmal große 4-rädrige Kerzen angezündet sind und den Ort der Feier zieren, wenn erstmal die vielen Pfarrer gekommen sind, denen man sich entgegenwirft, um sie zu liebkosen - ja, dann macht es doch erst richtig Spaß.
Und irgendwann, ja irgendwann passiert es dann. Man empfängt den Segen. Große grüne fahrende Altare erscheinen und die Menge baut sich vor ihnen auf, um zu rufen: Hier sind wir, segne uns, denn vorher weichen wir nicht!
Bis dahin haben schon hunderte von Gläubigen und Pfarrern Knutschflecke der verschiedensten Art vom vielen Liebkosen. Und auch die Ungläubigen haben manchmal körperlichen Anteil am Fest. Gewiss, auch von den Pfarrern werden sie einbezogen in die Feierlichkeiten, denn die Pfarrer wissen manchmal nicht mehr, wem genau gegenüber sie nun die unendliche Nächstenliebe der Gläubigen erwidern sollen.
Ungeachtet dessen bedenkt man weiterhin die Pfarrer und ihre mobilen, Segen spendenden grünen Altare mit Geschenken und Gesang. Die Geschenke kann man allermeistens werfen, so dass man nicht erst die körperliche Nähe des Gottesdiener suchen muss, denn die Liebkosungen eines Pfarrers möchte man manchmal dann doch nicht so gerne empfangen. Manchmal verbreiten die fliegenden Geschenke ein gemütliches Licht und wohlige Wärme. Manchmal entzünden sie Mensch und Maschine, doch was ist schon gegen Freudenfeuer einzuwenden?
Naja, aber irgendwann haben alle dann genug gefeiert und kehren dann doch dem Veranstaltungsort den Rücken.
Irgendwann sind die Kerzen weggeräumt, die Pflastersteine des heiligen Versammlungsortes wieder in den Boden eingefügt, die Ausnüchterungszellen geleert .... doch dann gibt es vielleicht immer noch weinende Kinder an den Krankenhausbetten ihrer Väter oder Mütter.
Epilog:
Und wenn mal irgendwann ein Gläubiger Angst haben muss um Gesundheit oder um Hab und Gut, dann wird auch er die 3-stelligen Rufeinrichtungen des Herrn nutzen, um ihn um Hilfe zu bitten, und es werden Pfarrer kommen - vielleicht gerade erst genesen -, die diese Hilfe leisten. Danken kann man ihnen dann ja wieder auf dem nächsten großen Fest ... am nächsten 1. Mai auf den Kreuzungen in Kreuzberg.